Ein Tag, um die Erde zu lieben
Bilder-Strecke zum Buch „Ein Tag, um die Erde zu lieben – Glanzlichter in den Alltag setzen“ von Ruth Rau.
Erschienen 2005 im Verlag Butzon & Bercker Kevelaer
Redaktion: Marcel Hiller (by HILLER MEDIA); Bilder: Ruth Rau
ES GIBT TAGE...
…an denen ist die Erde ein wunderbarer Ort. Nach einer langen Regenzeit scheint endlich die Sonne wieder. Ein Kind lacht uns an. Eine Blüte ist über den Zaun gewachsen und leuchtet uns entgegen. Plötzlich ertappen wir uns dabei, dass wir vor uns hin pfeifen oder wie in Kindertagen auf einem Bein über den Gehweg hüpfen. Unsere Probleme kommen uns lösbar vor, und wir machen uns einfach nicht so viele Sorgen. Es ist, als hätten wir eine Extraportion Lebenskraft bekommen, und mit ihrer Hilfe lässt sich manches lösen. Wir lächeln die Welt an, und die Welt lacht zurück.
Leider sind solche Tage selten für die meisten von uns. Oft sieht es anders aus. Der Himmel, die Stadt, unser Alltag, alles erscheint uns grau in grau. Wir werden niedergedrückt von Sorgen. An diesen Tagen übersehen wir all das, was uns gut tun könnte. Am Abend sind wir müde, bedrückt oder gereizt.
Es liegt gewiss nicht nur an uns, ob wir öfter die heiteren oder die grauen Tage erleben. Aber vielleicht können wir von den guten Tagen etwas lernen und es in die trüben Tage hineintragen. Vielleicht können wir das Geheimnis der strahlenden Tage entdecken und werden dann immer öfter solche Tage erleben, an denen es sich lohnt zu leben und an denen wir spüren: Das ist ein Tag, um die Erde zu lieben.
DAS LIED DER AMSEL
Jeden Spätwinter, wenn die kalten, grauen Tage kein Ende nehmen wollen, kündigt sich der Frühling aut eine besondere Weise an: mit dem Lied der Amsel. In der Morgendämmerung eines Märztages ist es auf einmal da.
Ich entdeckte es am Ende eines langen Winters, in dem ich morgens oft früh aufstand, um Briefe zu schreiben. Eines Morgens war in der Dämmerung das Lied der Amsel da, es tonte
mitten in die Dunkelheit, in den Nebel und die Kälte hinein. Seitdem ist es für mich zu einem Symbol der Hoffnung geworden.
Manchmal stelle ich sogar den Wecker, um es nicht zu versäumen. Dann stehe ich in der Dunkelheit auf, öffne das Fenster, schlüpfe noch einmal unter die warme Decke und warte ein wenig …
Auf einmal perlen die ersten Töne durch die Stille. Und dann beginnt eine Melodie, die voller Jubel ist, voller Entzücken über den neuen Tag. Das trillert und gluckst, flötet und jubiliert. Bald antworten wie ein Echo die Amsellieder aus den Nachbargarten, ein Klang-Raum entsteht, erschaffen von den Amseln.
Ich lausche. Ein Tag, der so beginnt, hat uns schon beschenkt, bevor er etwas von uns fordert.
BRIEFE, DIE DEN TAG VERÄNDERN
Manchmal kann ein Brief den ganzen Tag verändern. Reden wir lieber nicht vom Steuerbescheid oder der Mahnung. Nein, ich meine die handgeschriebenen Briefe, die wir manchmal in einem Berg von Drucksachen finden und die uns das Herz höher schlagen lassen. Ein Brief von einer guten Freundin, ein Gruß aus dem Urlaub, ein Liebesbrief: Jemand hat an uns gedacht, und zwar so sehr, dass er sich hingesetzt und einen Brief geschrieben hat. Solche Briefe verändern den Tag. Auf einmal fühlen wir uns nicht mehr so allein gelassen oder unbedeutend: Es gibt Menschen, denen wir wichtig sind.
Manchmal kommt mir spontan jemand in den Sinn, dem ich selber einen Brief schreiben möchte. Wenn möglich, tue ich’s gleich. Andere Briefe entstehen über mehrere Tage in mir, bevor ich sie zu Papier bringe. Briefeschreiben klärt meine Gedanken, und es festigt die Beziehung zu anderen.
Die Zitate in diesem Buch stammen aus solchen Briefen und oftmals haben sie einen grauen Tag in einen liebenswerten Tag verwandelt. Es lohnt sich immer noch, Briefe zu schreiben…
„…mein Briefpapier
hat die Zeichnung
von einem Baum.
Ja, ich bin Baum,
und ich bin Vogel.
Baum, das bin ich
hier zu Hause, und
ich bin einverstanden,
immer fester zu
verwurzeln, Früchte,
zu tragen, Schatten
zu spenden.
Aber in dem Baum
wohnt ein Vogel, und
der möchte fliegen.
Was sonst, da er
Vogel ist?
Ich stoße bei mir
immer wieder auf
diesen Gegensatz:
der Himmel und die
Erde. Und das
Bemühen, beides
festzuhalten, macht
mein Leben aus.“
AN EINEM SOMMERTAG IN EINER WIESE LIEGEN
Etwas vom Köstlichsten, das der Sommer zu bieten hat, ist es, an einem warmen Tag mitten in einer Wiese zu liegen, bäuchlings, die erwärmte Erde unter sich spürend. Man liegt gut auf ihr, sie ist fest und zuverlässig, sie trägt mich.
Meine Augen gehen spazieren in dem Stück Rasen, das sich vor ihnen auftut. Wie viele verschiedene Pflanzen und Blüten! Zwischen den Grashalmen breiten sich Rosetten von Gänseblümchen aus, unscheinbare Rispen mischen sich unter blühende Margeriten und Wiesensalbei. Und wie es wimmelt von Leben: Ameisen eilen die Stengel hinauf und ein Heuhüpfer macht große Sprünge. Ein Falter flattert vorbei, lässt sich auf einer Blüte nieder und schon ist er wieder auf und davon.
Meine Augen folgen ihm, ich drehe mich auf den Rücken. Nun sieht die Welt auf einmal ganz anders aus: Statt der kleinen Welt des Rasenstücks tut sich Weite auf. Der Blick schweift bis zum Waldrand, darüber wölbt sich der Himmel, über den weiße Wolken langsam nach Nordosten ziehen.
Wenn ich mit ihnen ziehen könnte, dann wäre die Landschaft, von dort oben betrachtet, nichts als ein bunter Flickenteppich aus Feldern, Weiden, Wäldern und Orten. Meine Wiese würde von dort oben als kleiner, grüner Fleck erscheinen. Und nichts würde ich ahnen von all ihren vielfältigen Geheimnissen.
DER REGENBOGEN
Es sind die wechselhaften Tage, die uns einen Regenbogen bescheren. Wolken jagen über den Himmel, Regenschauer prasseln herab. Die nächste Wolkenfront ist schon von Westen her im Anzug. Aber dazwischen ein Stück blauer Himmel. Für einige Minuten schiebt sich die Sonne zwischen den Wolken durch, und ihr Licht zaubert einen Regenbogen an den Himmel. Eine Brücke zwischen Himmel und Erde.
Stehen bleiben. Einen Augenblick innehalten und dieses Symbol der Hoffnung wahrnehmen. Eine machtvolle Verheißung ist damit verbunden: „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“
Manchmal haben wir den Eindruck, dass die Natur aus den Fugen gerät. Und wir wissen, dass wir selbst dazu beitragen, das empfindliche Gleichgewicht zu stören. Trotzdem sehen wir kaum eine Möglichkeit, das zu ändern.
Der Regenbogen am Himmel erinnert uns daran, dass die Schöpfungsordnung zuverlässig ist. In ihr wirken stärkere Kräfte als die unsrigen. Es gibt immer wieder diesen Brückenschlag vom Himmel zur Erde. Eine Einladung an uns, mit den Schöpfungskräften zusammenzuwirken, damit jene Verheißung wahr bleiben kann.
WOLKEN - WEGE
Der Gang ums Feld mit meinem Hund ist für mich zu einem Wolkenweg geworden. Der Blick schweift vom Schwarzwald über das Rheintal hinweg bis zu den Vogesen, und die vertraute Landschaft ist jeden Tag anders. Jahreszeiten sehe ich kommen und gehen. Aber am schönsten sind die Wolken, die ihre Wege über den weiten Himmel nehmen.
Besonders gerne gehe ich am Abend, wenn Licht und Farben sich ständig ändern. Plötzlich bekommen düstere Wolken einen goldenen Lichtsaum oder der Himmel ist in leuchtendes Orange getaucht, durch das sich graue Wolkenbänder ziehen. Eine Weile später hat sich das Leuchten in ein sanftes Rosa verwandelt, über dem sich ein türkisfarbener Himmel wölbt.
Fast dramatisch wird es an schwülen Tagen. Dann türmt die aufsteigende Luft sich über dem Schwarzwald zu riesigen Gewitterwolken auf, und ich kann mir ausrechnen, wie lange ich noch im Trockenen gehen kann. Schon nahen die ersten Böen und lassen die Kornfelder aussehen wie ein sturmgepeitschtes Meer.
Vielleicht gehe ich nach dem Regen noch einmal hinaus. Dann kann ich den abziehenden Wolken nachschauen, die Luft ist frisch gereinigt und die Farben leuchten in der Dämmerung.
DIE FLIEGE AN DER WAND
Es gibt Tage, da sind wir mit der Welt nicht im Reinen. Schon im Bad oder beim Frühstück geht etwas schief. Wir werden nervös und schon geht noch etwas schief. Bald ärgert uns die Fliege an der Wand.
An solchen Tagen kann ich ungeduldig werden. Unsanft drängle ich mich vorbei, wenn mir jemand im Weg ist. Die Leute gehen mir auf die Nerven. Je unfreundlicher ich bin, umso schlimmer scheint alles zu werden. Schließlich stolpere ich fast über eine ältere Frau, die am Ende der Rolltreppe unschlüssig stehen bleibt. Ich dränge mich an ihr vorbei und werfe ihr einen unwirschen Blick zu.
Auf einmal halte ich inne. Will ich mich wirklich weiterhin so durch den Tag rempeln? Ich atme tief durch. „Verzeihung“, sage ich leise. Es ist, als ob jemand antwortet: „Schon gut. Du musst heute nicht perfekt sein.“
Ich bin erleichtert. Solche Tage gehören ja auch zum Leben. Gelassener gehe ich weiter. Und beim nächsten Hindernis gelingt es mir sogar, über mich zu lachen. Und dann kann ich auch ein wenig nachsichtiger mit den anderen sein. Sogar die Fliege an der Wand darf weiter krabbeln und vielleicht kommt auch noch ein Glückskäfer daher…
„…heute bin ich unruhig. Die Musik meiner Seele wird durch schrille Töne gestört.
Gestern habe ich dir ein Lied auf der Flöte gespielt. Hast du’s gehört? Heute habe ich kein Lied.
Meine Blüten können heute nicht aufblühen, meine Worte auch nicht.
Vielleicht blüht heute nur meine Geduld.
Nur meine Bereitschaft, mich an dieses Leben hinzugeben…“
EIN LÄCHELN PFLANZT SICH FORT
Es ist gar nicht so schwer, ein Lächeln in die Welt zu setzen, und manchmal pflanzt es sich fort, so wie ins Wasser geworfene Steine Kreise ziehen.
Ich sitze in der Straßenbahn, mir gegenüber eine junge Frau mit einem Kind auf dem Schoß. Die Frau scheint müde vom Einkaufen zu sein, das Kind langweilt sich. Unruhig rutscht es herum. Ich lache es an. Nach einem Zögern lächelt es vorsichtig zurück. Ich krame aus meiner Tasche einen bunten Schmetterling aus Papier hervor, er hat vorhin meinen Eisbecher geziert. Ich reiche ihn dem Kind herüber: „Schau, ein Schmetterling.“ Das Kind nimmt den Schmetterling und lässt ihn „fliegen“. Es lacht. Die Mutter schaut zu mir herüber und lächelt auch. Neben mir sitzt eine ältere Frau. Auch sie beginnt zu lächeln. Und schließlich muss sogar ihr Mann schmunzeln.
Eine unbedeutende Szene. Aber sie wird nachwirken. Die Mutter wird etwas geduldiger mit dem Kind sein. Das Kind wird vielleicht ein bisschen weniger quengeln. Die älteren Leute haben gespürt, dass man nicht nur Unangenehmes erlebt, wenn man sich unter die Menschen begibt.
Und ich selbst bin zufrieden, weil ich ein Lächeln in Gang gesetzt habe. An manchen Tagen ist es so einfach…
EIN REGENTAG
Manchmal spüren wir es schon, bevor wir die Augen öffnen: Regentropfen trommeln leise ans Fenster. Ein feines Rauschen liegt in der Luft, unsere Ohren haben es vernommen, bevor die Botschaft in unser Bewusstsein gedrungen ist: Es regnet.
Manch einer möchte jetzt am liebsten die Decke über die Ohren ziehen und sich vor dem grauen Tag da draußen verkriechen. Aber auch ein Regentag hält Kostbarkeiten für uns bereit. Beim Frühstück fällt mein Blick auf die Birke vorm Fenster: Tausend silbrige Perlen schimmern und funkeln in den noch kahlen Zweigen. Am nächsten Tag entdecke ich, was der Regen noch gebracht hat: Der Garten ist grüner geworden, die ersten Knospen sind aufgesprungen. Der Frühling naht.
Später im Jahr verzaubert der Regen die Gärten noch mehr: Rosen leuchten wie mit Tauperlen übersät aus dem dunklen Grün, eine Ritterspornstaude strahlt mit ihren Silbertropfen wie ein Lichterbaum. Wenn jetzt die ersten Sonnenstrahlen hervorbrechen, beginnt ein Glitzern und Funkeln, das unübertrefflich ist. Die Tropfen zerlegen das Sonnenlicht in alle Regenbogentöne, die nun mit den satten Farben der Blumen wetteifern. Und die Vögel, froh, dass der Regen vorbei ist, fügen ihre Töne hinzu. Warten Sie nicht zu lange; nur allzu schnell hat die Sonne die Regentropfen hinweggetrocknet.
EIN SCHLARAFFENLAND?
Heute ist der Himmel grau, das Wetter widerlich, die Zeitung mal wieder voll düsterer Nachrichten und Prognosen. Trotzdem ein Tag, um die Erde zu lieben?
Ich hatte eine köstliche Himbeermarmelade zum Frühstück. Eine Freundin hat sie selbst gekocht. Es ist still an diesem Samstagmorgen. Niemand ruft an. Aber habe ich mir genau das nicht oft gewünscht, wenn das Telefon mich immer wieder aus der Arbeit riss?
Die Erde ist kein Schlaraffenland, gewiss nicht. Aber in einem Schlaraffenland möchte ich auch nicht leben. Nur faul herumliegen. Essen, bevor man hungrig ist, nur weil schon wieder die gebratenen Tauben vorbeifliegen? Lieber nicht. Eigentlich schmeckt das Essen erst richtig, wenn man sich hungrig gearbeitet hat. So richtig ans Herz wachsen einem doch die Dinge und Menschen, um die man sich mühen muss.
„Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen“, sagt der Volksmund. Wir meinen immer, die schwierigen Tage seien schwer zu ertragen. Aber hinterlässt solch ein Tag nicht wenigstens das gute Gefühl, dass wir ihn bestanden haben? Das Leben hat uns nicht untergekriegt. Und was uns gestern nicht gelungen ist, bekommen wir vielleicht morgen hin.
„…wenn jemand aufzählt,
was heute alles schief gelaufen ist,
dann frage ich manchmal:
Ist auch etwas gut gegangen?
Es kommt doch nicht nur darauf an,
wie der Tag läuft,
sondern auch darauf,
wo man hinschaut.“
(Anmerung einer Grundschullehrerin zu dem Diktat einer schwachen Schülerin:
„Du hast 58 Worte richtig geschrieben!“)
GEGEN DEN WIND
Bei Windstärke sechs mit dem Fahrrad unterwegs. Der Rückenwind war herrlich. Wir flogen nur so dahin und waren schnell am Ziel. Aber auf dem Heimweg kämpften wir gegen den Föhnsturm an. Ein paarmal hat es mich fast von der Straße geweht. Meist kam ich kaum vorwärts. Jede Pedalumdrehung kostete Mühe und ich kämpfte mich zäh und geduldig voran.
Diese Fahrt wurde mir zum Symbol. So kommt mir mein Leben manchmal vor: zäh und geduldig gegen den Sturm ankämpfen, standhalten, wenn einem der Wind ins Gesicht bläst, und dem Widerstand etwas entgegensetzen.
Es steckt etwas in uns, das sich messen möchte mit größeren Kräften. Auch wenn wir wissen, dass der Sturm hundertmal stärker ist als wir, spüren wir gerade dann unsere eigene vitale Kraft, wenn wir trotz aller Widerstände unser Ziel erreicht haben.
GEH AUS MEIN HERZ, UND SUCHE FREUD...
So hat Paul Gerhard am Ende des Dreißigjährigen Krieges gedichtet. Das Glück lag damals gewiss nicht auf der Straße. Ein langer Krieg hatte Europa verwüstet. Man musste die Freude regelrecht suchen. Aber wo denn und wie denn?
„Geh aus, mein Herz…“, sagt Paul Gerhard. Das heißt doch: Geh aus dir heraus; hör auf, um deine Sorgen zu kreisen, und schau, was außerhalb von dir ist!
Die Freude suchen gehen, das ist ein guter Rat. Manchmal kommt sie uns schon entgegen, wenn wir nur die Augen offen halten. Manchmal setzen wir sie selbst durch eine freundliche Begegnung in Gang. Und manchmal lacht sie uns einfach an: durch die tausend Blumen in den Gärten, durch die reifen Früchte auf dem Markt, durch spielende Kinder.
Wir brauchen nur noch zurückzulachen, und dann ist der Tag schon gewonnen.
OASE AN DER STRAßENBAHNHALTESTELLE
Schnaufend stehe ich an der Straßenbahnhaltestelle. Gerade ist mir meine Bahn vor der Nase weggefahren. Bis die nächste kommt, habe ich jetzt zwölf Minuten Zeit, ganz für mich. Ich lehne mich an die Glaswand und schließe die Augen. Langsam steigen Bilder vor meinem inneren Auge auf: eine kleine Hütte an einem See. Vor Jahren habe ich dort auf der Durchreise übernachtet. Ich saß auf den Holzstufen zum See hinunter und ließ die Stille und Schönheit dieses Fleckchens Erde auf mich wirken. Als ich mich eine Weile später umschaute, flammte der Himmel hinter den Tannen leuchtend rot. Bald dämmerte es und die Mondsichel tauchte über dem See auf. Später in der Nacht leuchtete der Sternenhimmel klarer, als ich es bei uns je erleben könnte.
Am nächsten Morgen waren alle Farben wie verschluckt. Über den See zogen Nebenschleier, Schwäne glitten hindurch wie in einem verwunschenen Märchenland…
Ein lautes Geräusch reißt mich aus meinen Träumen. Die Straßenbahn kommt. Gelassen steige ich ein. Der nordische Traum verblasst. Aber eins habe ich begriffen: Um Stille zu finden, muss ich nicht so weit fahren. Überall, sogar in der Stadt, kann man geheimnisvolle Orte entdecken, die uns zur Ruhe einladen und an denen die Zeit stehen bleibt.
VOM NICHTSTUN
Wovon träumen wir, wenn wir an Urlaub denken? Zuerst einmal vom Nichtstun: am Meer oder auf einer Terrasse mit Aussicht sitzen, den Blick schweifen lassen, durchatmen, die Beine und die Seele baumeln lassen, ein bisschen lesen, ein bisschen plaudern…
Man muss nicht immer etwas tun, um das Leben zu genießen. Unseren Platz auf dieser Erde müssen wir uns nicht verdienen, er wurde uns schon bei der Geburt geschenkt. Die Erde ernährt uns, so wie die Lilien auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel.
Als Kinder konnten wir das alle: vertrauensvoll in den Tag hineinleben und die Welt entdecken. Vielleicht finden wir im Ruhestand wieder dahin zurück. Aber in der Zwischenzeit vergessen wir es manchmal vor lauter Aktivität und Sorgen. Wie wäre das: einen ganzen Tag lang nichts anderes tun als die Erde zu lieben und es sich auf ihr gut gehen zu lassen…
BODEN UNTER DEN FÜßEN
Mein Sohn ist ein begeisterter Gleitschirmflieger. Manchmal kommt er nach Hause und erzählt mit leuchtenden Augen, wie er im Aufwind ein paar hundert Meter über den Berggipfel auf. steigen und sich über eine Stunde lang oben halten konnte. Da oben sei es atemberaubend, sagt er, weite Sicht, das Kleinkarierte des Alltags tief unter einem, Freiheit.
Aber er weiß auch um die Gefahren: wie leicht man vom Winde verweht wird, wie dünn die Luft da oben ist und wie gefährlich der Aufwind wird, wenn er einen zu hoch hinausbringt.
Sind unsere Träume von Glück, Liebe und Erfolg nicht auch wie Gleitschirme? Sie können uns hoch hinauftragen. Aber irgendwann muss jeder wieder landen. Auch wenn unsere Höhenflüge noch so großartig sind: Es ist gut, wieder Boden unter den Füßen zu haben. Schön, dass die Erde uns trägt und dass wir auf ihr einen sicheren Platz haben.
DER SONNE ENTGEGEN
Am liebsten gehe ich an einem lauen Sommerabend zum Schwimmen. Die Badegäste des Tages sind schon nach Hause gegangen. Der See liegt als spiegelnde Fläche vor mir. Enten und Bläßhühner ziehen ihre Bahn und weben ihre Muster in den Seespiegel. Ihr leises Schnattern und Rufen verschmilzt mit dem Abendlied der Vögel, dem Gesang der Frösche und dem Surren der Libellen zu einer Melodie.
Leise tauche ich ins Wasser ein. Die Luft ist lau, das Wasser angenehm frisch. Langsam gleite ich am Ufer entlang. Libellen umschwirren mich. Weiter drüben breiten sich Seerosen aus. Ich schwimme hinüber. Wasserpflanzen berühren mich, streicheln meinen Körper entlang, eine geheimnisvolle Welt begegnet mir. Vorsichtig nähere ich mich den Seerosen, bin Auge in Auge mit ihren leuchtenden Blütensternen. Glatt und fest fühlen sich die Blütenknospen an, alles Wasser perlt an ihnen ab.
Fasziniert schwimme ich um die Seerosen herum. Wie in Wassermanns Reich fühle ich mich. Sollte er zwischen den Blättern auftauchen, es würde mich nicht wundern. Aber da er sich nicht blicken lässt, schwimme ich zurück. Die Sonne ist schon tief gesunken. Ihre Spiegelung legt eine goldene Spur über das Wasser. Ich folge dieser Spur und schwimme in das Gold des Abends hinein, der Sonne entgegen.
UNTER EINEM DACH
Es ist gut, nach Hause zu kommen. Geschützt zu sein vor neugierigen Blicken, vor Unverständnis, vor der Notwendigkeit, sich in eine Rolle einzufügen. Schon Schulkinder erleben das. Ein Haus umschließt Menschen, die zusammengehören. Es schützt sie vor der Kälte draußen, es bietet einen gemeinsamen Lebensraum.
Aber hier drinnen ist es auch notwendig, immer wieder zueinander zu finden. Das geschieht nicht von alleine. Unsere Alltage breiten sich zwischen uns aus. Jeder hat etwas anderes erlebt und ist erfüllt davon. Während dem Vater noch eine schwierige Konferenz durch den Kopf geht und Mutter sich Sorgen macht um eine erkrankte Freundin, wollen die Kinder von ihren Erlebnissen im Zoo erzählen.
Beim gemeinsamen Essen tastet man sich mit Hilfe der alltäglichen Dinge wieder aneinander heran. Unter einem Dach leben, an einem Tisch sitzen, das verbindet. Während man einen Ausflug plant oder ein Geschenk für die Großmutter ausdenkt, erlebt man: Wir kommen einander entgegen, wir gehören zusammen. Wir müssen keine großen Worte machen. Indem wir den Alltagskram miteinander bewältigen, finden unsere Herzen wieder den Weg zueinander.
IM RHYTHMUS BLEIBEN
Morgens beim Aufstehen ist die Welt noch in Ordnung. Ist es nicht ein Wunder, wie der Schlaf uns vom vergangenen Tag erlöst und in einen neuen Raum stellt? Jeden Morgen die Chance, neu zu beginnen…
Und dann wird der Tag lebendig. Im Haus rührt es sich. Wir möchten den Tag gestalten, ihm eine Struktur geben, wir haben Pläne und Termine, wir haben unseren Lebensrhythmus.
Aber manchmal geschehen Dinge, die alles durcheinander bringen. Es gibt Tage, die entgleiten einem, man verliert seinen Rhythmus, man wird eher von außen bestimmt, anstatt seine Zeit selber zu gestalten.
Auf manches haben wir keinen Einfluss. Kinderkrankheiten, Zugverspätungen und Ähnliches müssen wir einfach hinnehmen. Aber manches geschieht auch, weil wir versäumen, die Weichen richtig zu stellen, uns zu sammeln und die Richtung festzulegen.
Was hilft uns, im Rhythmus zu bleiben? Auf die innere Stimmehören. Sich von außen nicht drängen lassen, sondern das Leben nehmen, wie es gerade kommt. Nichts erzwingen wollen, starre Pläne loslassen und den Rhythmus aufnehmen, in dem das Leben spielt.
„…manchmal, wenn die Spannung zwischen meinen Bedürfnissen und den Möglichkeiten mich regelrecht zerreißen wollte oder wenn die Belastungen zu groß wurden, habe ich mich hingestellt und tief geatmet und laut gesagt: Ja – ja – ja. Ja!
Dieses Annehmen der Realität ist ungeheuer wichtig. Es befreit, wo man sich sonst zerreißen würde. Und es hat nichts mit Resignation zu tun. Im Gegenteil, erst von diesem Boden aus können wir die Möglichkeiten ausschöpfen, das Veränderbare zu verändern.
WEIL GOTT DIE ERDE LIEBT
Wenn Sie sich entscheiden könnten, noch einmal auf der Erde zu leben, würden Sie Ja sagen?
Alle Freuden, alles Glück, alles Leid, alle Schmerzen noch einmal erleben?
Ich glaube schon!
Zugegeben, manchmal machen wir Menschen das Leben auf der Erde fast unerträglich und unsere Sorgen wachsen ins Unermessliche.
Trotzdem: Auf einmal begegnet uns ein Kind, das genüsslich sein Eis leckt; Nachbars Katze besucht uns und streift uns um die Beine. Die erste Dahlie ist aufgeblüht. Ein Baum hängt voller Früchte, die Aussicht von einem Berg ist atemberaubend. Und auf einmal wissen wir wieder, warum es sich lohnt, hier zu leben: weil Gott die Erde liebt und weil wir überall Spuren seiner Liebe und Schönheit entdecken.
EIN GEBET
Gott,
ich bitte dich um Liebe
für den heutigen Tag.
Hilf mir, den Menschen verständnisvoll
zu begegnen.
Lass mich ihre Nöte wahrnehmen
und ihre liebenswerten Seiten.
Gib mir offene Augen
für deine herrliche Schöpfung
und lass mich achtsam sein
mit allem, was du erschaffen hast.
Schenk mir Geduld und Klarheit
in den Schwierigkeiten des heutigen Tages
und setze meinem Alltag ein paar Glanzlichter auf,
damit die Freude nicht untergeht.
Lass mich heute diese Erde lieben, weil du sie liebst.
Amen.
Bilder-Strecke zum Buch „Ein Tag, um die Erde zu lieben – Glanzlichter in den Alltag setzen“ von Ruth Rau.
Erschienen 2005 im Verlag Butzon & Bercker Kevelaer
Redaktion: Marcel Hiller (by HILLER MEDIA); Bilder: Ruth Rau