...dann wünsche ich mir Flügel

Bilder-Strecke zum Buch „…dann wünsche ich mir Flügel“ von Ruth Rau.
Erschienen 1984 im Fotokunst-Verlag Groh, Wörthsee und München
Redaktion: Marcel Hiller (by HILLER MEDIA); Bilder: Ruth Rau

EINFÜHRUNG

Meine Reise begann eigentlich im Winter.
Am zweiten Weihnachtstag wachte ich auf mit dem Wunsch:
diesen Sommer will ich nach Schweden fahren.

Ich wußte, daß Schweden ein weites Land mit Wäldern und Seen ist.
Ich wußte, daß es dort viele alte Kirchen mit kostbaren Kunstwerken gibt.
Mehr wußte ich nicht. Das Unbekannte lockte mich.
Reiseführer und Landkarten steigerten meine Ungeduld von Tag zu Tag.

Schweden ist eine kühle Schönheit. Seine Reize sind verborgen.
Man muß sich auf die Suche machen und sie selbst entdecken.

Etwas Merkwürdiges geschah mit mir, sobald ich das Land betrat.
Etwas wachte auf in mir. Ich sah mit einem Mal alles klarer.
Ich fing an, mich selbst besser zu verstehen.
Etwas in mir begann zu erzählen.

Ich meine, daß es für jeden von uns ein Land gibt,
in dem er sich selbst begegnet.

EINE TÜR ÖFFNEN

Ein neues Land bereisen,
das ist wie frisch gefallenen Schnee betreten.
Es gibt noch keine Spuren der Erinnerung.

Alles Erleben beginnt damit, daß man eine Tür öffnet,
heraustritt aus seinem Alltag
und bereit ist, Neues zu entdecken.
Es liegen so viele Geheimnisse hinter den Türen verborgen.

Eine Reise beginnt, wenn einer seine Welt verläßt
und Schritte wagt in ein neues Land.
Mit einer Portion Neugier, etwas Mut und viel Hoffnung.
Nur der wird etwas erleben, der etwas erwartet.

Ich muß mich nur auf den Weg machen.
Meinen Träumen folgen. Offen sein.

...DANN WÜNSCHE ICH MIR FLÜGEL

Jedes Jahr geschieht es,
wenn die Tage lang
und die Abende lau werden;
da wird mir meine Welt zu klein,
der Alltag hat grau gemacht,
etwas Zartes in mir droht zu ersticken,
die Füße sind pflastermüde geworden;
dann wünsche ich mir Flügel.

Ich möchte den Himmel sehen und Gras fühlen,
Salz in der Luft schmecken,
frischgepflügte Erde riechen.

Aber es gilt ja nur, die Tür zu öffnen
und bis an den Horizont zu laufen.

Der Weg beginnt gleich vor der Tür.

EIN TRAUMLAND

Tief verborgen in unserer Seele liegt ein Land.
Ein helles, sonniges, weites Land ist das.
Wir schmücken es aus an nebelgrauen Wintertagen
oder unter kalten Aprilschauern.
Im Gedränge unserer Städte träumen wir davon.

Dort ist es zuweilen ganz still. Blumen wiegen sich im Wind.
Eine reife Frucht fällt herab. Sie ist süß.
In der Nähe sprudelt eine Quelle. Ein Vogel singt.

Leise plätschern Wellen an den Strand. Nichts hat hier Eile.
Man kann Lachen hören, aber kein böses Wort.
Ein gelobtes Land ist das. Ein Paradies.

Hast du auch solch ein Traumland in dir?
Ich glaube, daß all unser Reisen ein Suchen ist nach diesem Land.

AUFBRUCH

Immer wieder machen wir uns auf mit dieser Sehnsucht im Herzen.

Du eilst vielleicht in einen Hafen, lichtest die Anker
und hast Herzklopfen beim wilden Schrei der Möwen.

Oder es treibt dich zu den hohen Bergen,
und du willst dich mit ihnen messen;
ziehst schwere Schuhe an deine Füße, keuchst schwitzend bergauf,
und oben hast du – eine Stunde lang – alle Freiheit der Welt,
ein unermeßliches Gipfelglück.

Oder du fliegst nach Süden,
zu einer Insel, wo du baden kannst in Sonne und Licht;
in kühles blaues Wasser tauchst, so oft du magst,
und am Abend Seligkeit trinkst
schweren roten Wein und Mandolinenklänge.

Vielleicht auch bist du einfach unterwegs im Land,
fährst durch Wälder und Felder,
vorbei an Burgen, Städten und Domen;
die Ströme entlang auf uralten Pfaden der Völker.

Denn immer schon sind Menschen unterwegs
auf der Suche nach dem besseren Land.
Immer schon folgten Menschen ihrer Sehnsucht, ihren Träumen.
Immer schon währt dieses Wandern.

ALLE MEINE ZÜGE FAHREN NACH NORDEN

Ich weiß nicht, warum es mich immer nach Norden zieht.
Andere leben auf, wenn sie sich in den Orientexpreß setzen
und nach Süden rollen.

Meine Züge fahren alle nach Norden.
Meine Sehnsucht ist es, an Bord eines kleinen Dampfers zu stehen,
der unter schweren grauen Wolken seinen Weg
zu den einsamen Höfen am Ende eines Fjords sucht.

Ich möchte nichts weiter, als einem Wasserfall lauschen,
der über flechtenbedeckte graue Steine schäumend ins Tal stürzt.
Oder an einem See auf einem Felsen sitzen und träumen.

Ich weiß bis heute nicht, warum.
Ob eine nordische Fee heimlich etwas in meine Wiege flüsterte?

EINE MELODIE

Laß mich erzählen, was ich erlebte.
Vielleicht kannst du dasselbe auch im Süden erleben,
denn was zu mir sprach,
das waren Baum und Blume, Meer und Stein, Haus und Weg,
und die gibt es überall.

Die einfachen Dinge,
die uralten und doch täglich neuen, die wissen am meisten.
Sie stimmen eine Melodie an, die auch in dir schlummerte
und nun mitschwingt, und sie sagen dir,
was du schon immer gewußt, aber noch nie verstanden hast.

Es ist etwas Merkwürdiges mit den Wünschen unseres Herzens:
Jahrelang sehnt man sich nach etwas,
man erträumt es und ertastet es mit seinen Gedanken,
aber wenn es endlich da ist, kann man es nicht fassen.

Schon nach kurzer Zeit ist das Herz voll,
die Sinne müde, die Sehnsucht gestillt.
Aber ist das Herz zufrieden? Nein, es sehnt sich sogleich weiter.
Die Gedanken fliegen voraus. Unruhe treibt uns voran.

UNTERWEGS ENTDECKEN

Geheimnisvoll schaut Eva herab vom Türsturz einer alten Kirche.
Eva – Erinnerungen an die ersten Tage der Menschheit.
War nicht am Anfang alles gut?
Und dann ging etwas verloren,
und wir durchstreifen die Welt, um es zu suchen.

Sind wir nicht alle Evas Kinder, mit dieser Neugier in uns?
Mit dieser Unruhe, die uns umtreibt, mit der Sehnsucht nach dem,
was war, und dem Verlangen nach einer großen Zukunft?

Eva scheint uns etwas zuflüstern zu wollen.
Vielleicht ist es klug, denen zu lauschen, die vor uns waren.
Denn die Vergangenheit lebt in uns allen.
Wir ernten täglich ihre Früchte.

DEN WEG SUCHEN

Mensch sein heißt unterwegs sein.
Seinen Lebensweg gehen. Ein Ziel haben. Auf der Suche sein,
weil man den Weg nicht kennt und nicht weiß, welches Ziel sich lohnt.

Auf Reisen verdichtet sich dieses Gefühl, unterwegs zu sein;
man sucht seinen Platz und hinterläßt seine Spuren.
Weite Landstriche durchmißt man in kurzer Zeit
und erfaßt, wie Landschaft, Natur und Menschen
nördlicher oder südlicher werden.

Du läßt dich auf Erfahrungen ein, die im Alltag keinen Raum haben:
einen Sonnenaufgang erleben oder eine Nacht durchwachen.
Und wenn es dir geschenkt wird, kannst du dein Ziel klarer sehen
und den Weg finden.

WAS DU BRAUCHST

Ich habe auf meiner Reise gemerkt,
daß auch das Unterwegs-Sein gelernt sein will.
Oft sah ich am Straßenrand junge Leute,
gebeugt von Rucksäcken,
die hoch über ihre Köpfe hinausragten.
Muß man sich so schwer beladen,
wenn man Freiheit erleben will?

Auch meine Koffer waren viel zu voll.
Wir häufen so viele Dinge an
und belasten uns mit ihnen.
Wer sein Haus mitführt,
muß das Tempo einer Schnecke einhalten.

Gewiß, nicht überall ist der Tisch reich gedeckt,
und der Weg zum nächsten Ort kann lang werden.
Aber sind es nicht vor allem unsere Ängste und Sorgen,
die unser Gepäck so schwer machen?

Überall wohnen Menschen,
und wenn sie auch eine andere Sprache sprechen,
so werden sie doch verstehen, was dir fehlt, und dir helfen.

Es ist so wenig, was ein Mensch braucht:
ein Glas Wasser, ein Stück Brot,
ein Dach zur Nacht, und dann und wann ein Lächeln.

WOHIN ES MICH ZIEHT

Das fällt wie ein Wermutstropfen in den Becher der Reiselust:
man zieht umher und sucht einen freundlichen Platz,
und wenn man ihn gefunden hat, will man bleiben und muß weiter.
Schon die alten Wanderlieder sind voll von dieser Wehmut.

Ich spüre in mir die Fliehkraft und die Schwerkraft zugleich.
Es drängt mich zu den Sternen,
doch gleichzeitig möchte ich ein Haus bauen
und einen Baum bei einer Quelle pflanzen.

Unruhig ist unser Herz, zerrissen von all seinen Wünschen.

SPUREN AM STRAND

Wer einmal lange am Strand wanderte, der versteht es:
Wir sind auf der Suche nach einem unberührten Stück Erde,
aber sobald wir es gefunden haben,
entdecken wir dort Spuren – unsere eigenen.

Kein Fleck, auf den je ein Mensch seinen Fuß setzte,
ist unberührt geblieben. Du bückst dich nach einer seltenen Pflanze
und zertrittst dabei hundert Gräser.

Wo gibt es noch ein Stück Paradies, wenn der letzte Berg bestiegen,
der letzte Urwald durchdrungen, die letzte Wüste durchquert sein wird?

Man müßte sehr weit in die Einsamkeit vordringen,
um irgendwo mit Gewißheit sagen zu können: hier bin ich der erste.
Aber was gewinnt man dadurch?

Gilt es nicht vielmehr die unberührten Stellen in unserer Seele zu hüten,
bevor auch dort jemand seine Spuren hinterläßt?

EIN UNRUHIGER WANDERER

Es regnet, aber das stört mich nicht. Ich möchte wandern.
Bald habe ich den Waldweg gefunden. Er ist ganz schmal, federt unter den Füßen.
Teils führt er zwischen Tannen und Kiefern hindurch,
teils auf Bohlen durch Sümpfe und kleine Moore.

Ich habe Zeit. Etwas in mir pendelt ein, pendelt aus.
Den ganzen Tag möchte ich so wandern. Einfach gehen und gehen.
Es tut gut, allein zu sein. Ich war nicht oft allein in den letzten Jahren.
Jetzt spüre ich mit aller Macht, wie ich mich danach sehne.

Mit kraftvollen Schritten schreite ich aus.
Ich fühle, es ist noch Unruhe in mir. Warum? Was drängt mich?
Ich habe hier doch Stille erfahren. Ist sie schon wieder geschwunden?

Meine Gedanken sind beim Morgen und Übermorgen.
Aber ich wandere jetzt durch den regennassen Wald, bin allein und habe Zeit.
Jetzt und hier. Nicht morgen. Nicht nächstes Jahr. Jetzt und hier.

Meine Schritte gehen im Takt. Gehen und gehen. Ich werde ruhiger.
Lausche den Stimmen des Waldes. Spüre den Regen im Gesicht.
Spüre, wie er aus meinem Haar zu tropfen beginnt. Schnuppere Waldluft.

Endlich habe ich mich eingeholt.

DAS MAß FINDEN

Bist du auch so ein unruhiger Wanderer, der sich selbst vorauseilt;
dessen Gedanken immer schneller sind als die Schritte,
dessen Wünsche schneller wachsen als die Kraft?

Ich habe gespürt: das war die Quelle meiner Unruhe,
daß ich mir keine Ruhe gelassen habe.
Es waren nicht die anderen Menschen, nicht der Lärm,
nicht die Anforderungen von außen.
Nur mein eigenes ungeduldiges Herz. Nur, was ich selbst von mir forderte.
Was habe ich alles von mir erwartet. Wie viele Aufgaben übernommen.
Ja gesagt, obwohl ich nein gefühlt habe. Immer noch mehr.
Besser sein wollen. Sein wollen wie… Ja, wie?

Oft habe ich unterwegs über das Paradies nachgedacht.
War das nicht die Versuchung gewesen: Mehr sein wollen.
Mehr haben wollen. Sein wollen wie Gott. Nie zufrieden sein.
So ging uns das Paradies verloren. Wie kann ich es wiederfinden?

Es kommt darauf an, das Maß zu finden und es zu bewahren.
Es kommt darauf an, Schritt zu halten mit sich selbst.

DEN DINGEN NACHDENKEN

Alles, was uns begegnet, verändert uns.
Es geht durch uns hindurch und hinterläßt Spuren.

Es tut gut, einmal Zeit zu haben und nachzusinnen,
das Kinn aufzustützen und den Gedanken freien Lauf zu lassen.

Sie um eine Blume kreisen lassen.
Zwiesprache halten mit einem Baum.
Im Lied der Vögel einen Lobpreis ahnen.
Den Tag als ein Stück Ewigkeit erleben.

Etwas vom Geheimnis des Lebens begreifen.

EIN GEHEIMNIS BELAUSCHEN

Mit dem ersten Morgenlicht bin ich leise aufgestanden.
Ich möchte zuschauen, wie der Tag erwacht. Ich möchte mit erwachen.
Aus dem kleinen Moor vor mir erhebt sich ein Nebelschleier.
Alle Farben scheinen noch zu schlafen. Aber die Vögel sind schon wach.

Gerade hat sich die Sonne über den Horizont erhoben,
und mit einem Mal beginnt in der Moorwiese
ein Glitzern und Funkeln, wie ich es noch nie gesehen habe.
An jedem Halm blitzen Tautropfen auf.

Ich setze mich an den Rand der Wiese, um dieses Wunder von nahem anzusehen.
Schachtelhalme sind mit leuchtenden Kugeln besetzt
und sehen aus wie kleine helle Christbäume.
Die Frauenmantelblätter funkeln, als hätte sie jemand mit Diamanten bestickt.

Ich kann mich nicht satt sehen. Aber es wird kaum eine Stunde währen oder zwei,
dann ist der Zauber vorbei. Dann steigt die Sonne hoch in den Himmel,
und die Moorwiese wird unscheinbar daliegen und schweigen.
Niemand ahnt ihr Geheimnis, der es nicht in der Morgenstille belauscht hat.

DER BAUM AUF DEM FELSEN

Der Baum auf dem Felsen lebt mir ein Gleichnis vor.
Er hat hier zu keimen gewagt.
Er begnügt sich mit dem wenigen, das er an seinem Platz vorfindet,
und wird dennoch zu dem Baum, der in ihm angelegt ist.

Trotz Dürre, trotz Sturm, trotz Mangel hat er Kraft,
auf nacktem Fels zu blühen und Frucht zu bringen

NORDISCHER SOMMER

Wenn man von Süden heranreist, erlebt man eine Wandlung des Sommers:
Zunächst fährt man durch farbenfrohe Wiesen und Felder.
Weiter im Norden ist der Sommer schüchterner. Da ist das Land karger,
die Nächte sind kühler. Es ist nicht so weit bis zum ewigen Eis.

Hier ist das Blühen verhaltener, die Farben sind blasser.
Jede Blüte zählt hier. Man sollte an keiner vorbeigehen.

Da steht eine Blume am Wegrand.
So schlicht ist sie, und doch vollkommen in ihrer Art.
Der Kelch schwingt zum Licht, anmutig neigt sich die Knospe.
Die zarten Härchen leuchten. Und welch eine Harmonie der Farben.

Aber vielleicht, wenn du morgen zurückkommst,
findest du die Blume nicht mehr. Sie ist vergangen.
Ob es weh tut zu welken?

VOM EIS BEFREIT

Hier im Norden erlebt man die Welt wie kurz nach der Schöpfung.
Es ist ja kaum zehntausend Jahre her, da das Eis schmolz
und Gletscher das Urgestein glatt und rund geschliffen haben.

Wasser und Land sind noch nicht geschieden; ein Moor steht in jeder Senke.
Das Land, so alt es ist, ist fast noch dabei, geboren zu werden.
Erst vor einigen tausend Jahren begannen hier wieder
Flechten die Felsen zu überziehen, begann Wald zu wachsen.
Und die Kultur des Menschen ist eine hauchdünne Kruste,
die das Land nur an wenigen Stellen prägen und umgestalten konnte.

Mitten im Acker findet man Inseln aus Steinen,
die in Jahrhunderten dem Pflug aus dem Weg geräumt wurden.
Wieviel Mühe muß es gekostet haben,
solchen Äckern das Lebensnotwendige abzuringen.

Aber auch hier reift das Korn. Gesegnete Erde.

ABEND AM SEE

Waldboden federt unter meinen Füßen. Ein leiser Wind raschelt im Schilf.
Die letzten Badenden sind heimgegangen;
nun wird der Waldsee bis zum Morgen mir gehören.
Ich spüre ein prickelndes Gefühl wie damals,
wenn ich mich als Kind in einen fremden Garten einschlich.

Es ist schon so dunkel, daß ich im Wald den Weg nur noch ahnen kann.
Aber dann schimmert es hell zwischen den Bäumen: ich habe den See erreicht.
Das Wasser spiegelt den letzten Rest von Licht.

Ich setze mich ans Ufer, lehne mich an einen Baum und werde still.
Eine Ente schnattert im Schilf. Manchmal gluckst es im See, ein Fisch ist gesprungen.
Lautlos gleitet eine Eule über dem Ufer dahin.

Ganz tief nehme ich dieses Dunklerwerden und Stillerwerden in mich auf.
Es geschieht um mich herum, es geschieht in mir.
Was am Tag war, schweigt schon. Nun steigt auf, was in mir ist:
Wünsche, Enttäuschungen, Ziele. Ich bedenke alles.
Es ist gut, dies wahrzunehmen. Ich werde es nicht vergessen.

Mensch sein heißt schöpferisch sein.
Niemand außer uns hat diese Fähigkeit.
Wir sehen, wie ringsum in der Natur
die Dinge und Lebewesen gestaltet sind,
und wir gestalten nach,
was ein größerer Schöpfer geschaffen hat.

Aber wir sind nicht nur Schöpfer,
wir sind auch Geschöpfe,
jeder von uns in seiner Art liebevoll erdacht.
Wir sind noch im Werden.
Wie weitgehend sich ausprägen konnte,
was in uns angelegt war,
wird sich erst am Ende unserer Reise zeigen.

In jedem von uns bleibt etwas unvollendet,
das noch darauf wartet, erfüllt zu werden.

GESTALTEN UND GESTALTET WERDEN

Gestaltet werden – wie geschieht das?
Ich habe unterwegs viele alte Holzschnitzwerke bewundert
und habe mir vorgestellt, wie sie entstanden sind:

Da ist ein Holzklotz. Abgelagert muß er sein.
Noch ist er grob und kantig,
aber der Meister sieht schon, was er daraus machen möchte.
Harte Arbeit, bis auch nur die Umrisse erkennbar sind.
Viel Überflüssiges muß entfernt werden.
Die Gestalt zeichnet sich jetzt ab.
Aber das ist dem Meister noch nicht genug.

Nun muß er feinere Werkzeuge verwenden.
Er beginnt die Kanten zu runden,
Haar und Faltenwurf zu modellieren.
Wieviel Mühe braucht es,
bis die klare Stirn der Madonna entstanden ist.
Du wärst schon längst zufrieden,
aber der Meister hat Größeres vor.
Er weiß, daß die Form noch feiner,
der Ausdruck noch zarter werden kann.
Jene innige Geste mit einem Hauch von Schmerz
es ist sein Geheimnis, wie er das zustande bringt.
Und wie er den Ausdruck in die Augen legt.
Wieviel Mühe er auf alles verwendet.

Aber anders entstehen keine großen Werke.

ETWAS BEHALTEN

Reisen ist ein ständiges Aufnehmen und wieder Loslassen.
Man fährt an so vielem vorbei;
vorbei an Wäldern und Seen, vorbei an Dörfern und Äckern.
Du bist unterwegs und weißt, daß du irgendwann umkehren mußt.

Aber wenn du schon nicht bleiben kannst,
dann willst du wenigstens etwas mitnehmen von dort,
wo es dir gefallen hat. Du kannst noch nicht loslassen.
Du hast dir den Ort ein wenig zu eigen gemacht.
Etwas davon gehört nun dir, und das möchtest du behalten.

Etwas von dir bleibt dort, überall ein wenig,
und als Ersatz nimmst du ein paar Dinge mit: einen Stein vom Strand.
eine getrocknete Blume, eine schöne Feder, ein Schneckenhaus.
Oder wenigstens einige Bilder.

AM MEER

Das Meer hat dir viel zu sagen, wenn du dich an den Strand setzt
und seinem gleichförmigen Rauschen zuhörst.

Es erzählt dir,
daß die Zeit mit anderen Maßstäben gemessen wird als mit den deinen.
Siehst du den Felsen dort in der Brandung?
Es hat Jahrhunderte gedauert, bis er abgetrennt war vom Land.
Das Meer hat Geduld. Viele Wellen schickt es in einer Stunde,
und jeden Tag nimmt es ein paar Körner, nicht mehr. Es hat ja Zeit.

Wer weiß, welche Veränderungen das Meer
in den nächsten Jahrhunderten schaffen wird.
Du wirst es nicht mehr sehen,
und deine Kinder und Kindeskinder auch nicht.
Warum also hast du es so eilig? Bleib doch sitzen.
Das Meer hat dir noch viel zu sagen.

STEINE AM STRAND

Siehst du die Steine in der Brandung? Fühle doch einmal, wie glatt sie sind.
Es hat Zeiten gegeben, da waren sie kantig und hatten scharfe Ecken.
Rauhe Bruchstücke waren sie, abgetrennt vom Land, in den Sand gerollt.

Aber dann begann das Meer seine Arbeit an ihnen, das Meer und die Zeit.
Gleichgültig umspülte sie das Wasser.
Oft haben Sturm und hohe Wellen sie aneinandergestoßen.
Langsam reibt der Sand die Kanten runder.

Bist du auch so ein Stein, von dem das Leben die Kanten abreibt?
Bist du dabei, glatt und rund zu werden,
oder stoßen sich andere noch an deinen harten Kanten?
Hab nur keine Angst.
Kein Stein gleicht dem andern. Jeder hat seine eigene Form und Farbe.
Unverwechselbar ein jeder.

WERDEN UND VERGEHEN

Glatt und rund wie ein Stein am Strand? Nein, das bin ich nicht.
Eher, so meine ich manchmal, bin ich wie der Holzklotz,
aus dem ein großer Meister ein Kunstwerk schaffen möchte.

Holzklotz oder Stein am Strand – ich bin etwas, das verändert wird.
Zeit und Umgebung hinterlassen ihre Spuren.

Ich wehre mich vergebens dagegen. Warum auch wehren?
Schau die Blumen an. Oder die toten Bäume oben auf den Felsen.
Die Heiligenfiguren, an denen der Holzwurm genagt hat, die verblassenden Altäre.
Die Felsen am Strand, gebaut aus Schneckenhäusern der Vorzeit,
zu Sand zerrieben, dann zu Sandstein gepreßt und wieder emporgehoben.

Werden und Vergehen, das ist das Irdische. Man muß sich nicht wehren.
Schau die Steine an, sie halten auch still.

Immer währt das Fremdsein nur so lange,
bis man das Herz von Menschen gewinnt.

EINANDER BEGEGNEN

Mit einem Land vertraut werden,
das geschieht nicht nur in den stillen Stunden am Strand,
es geschieht vor allem in den Begegnungen mit Menschen.

Selbst wenn wir losgezogen sind, um die Einsamkeit zu suchen,
hungern wir schon in wenigen Tagen nach einem Gespräch.
Unser Glück hängt ab von den Menschen.
Alleinsein und Begegnungen, beides brauchen wir.

Es ist ein lebenslanges Balancespiel,
das richtige Maß zu finden zwischen Distanz und Nähe.
Es ist kostbar, miteinander im Gleichklang zu schwingen.
Ist nicht in jeder Begegnung ein Tasten nach dieser Harmonie?
Der Wunsch, zu verstehen und verstanden zu werden,
in einem kurzen Blick, in einem langen Gespräch
oder manchmal ganz ohne Worte.

GESPRÄCHE

Wenn man ein Land zu lieben beginnt,
werden einem die Menschen wichtig, die dort leben.
Sie haben mitgestaltet an diesem Land.
Da muß etwas Verbindendes zwischen uns sein.

Freilich sind die Menschen ein wenig scheu hier im Norden.
Es wird wohl nicht viel gesprochen an den dunklen Wintertagen.
Sie sind gewohnt, ihren Gedanken nachzuhängen,
aber wenn du offen bist, kommen sie dir entgegen.

Dann sitzt man abendelang zusammen und erzählt.
Zuerst über »dein Land und mein Land«,
dann aber, wenn es draußen still und dämmrig wird,
über dich und mich. Menschen begegnen einander,
und mit einem Mal fühlst du dich nicht mehr fremd.

DIE GROßE STADT

Einige Tage verbrachte ich still in den Schären.
Abend für Abend glitzerten in der Ferne die Lichter der großen Stadt.
Es war eine Verlockung, hinüberzureisen und ihre Schätze zu besehen.

Aber irgendwie fürchtete ich mich davor. Ich kenne diese Städte zu gut.
Dort herrscht überall die gleiche Hektik, dasselbe Gedränge.
Städte machen die Menschen krank. Sie würgen etwas ab tief drinnen in uns,
das zu zart ist und zu verletzlich, um sich zu wehren.

Die Läden sind voll und die Plakatwände laut.
Alle Wünsche werden geweckt. Wieviele werden erfüllt?
Oft nicht einmal die nach ein wenig menschlicher Wärme,
etwas Nachbarschaft, nach einem Lächeln.

Aufgeschreckt wird man und gejagt. Und das Schlimme ist:
man gewöhnt sich daran und jagt mit und ist immer auf der Suche
und nie am Ziel.

Ich ließ alle Sehenswürdigkeiten ungesehen
und blieb in der Einsamkeit der Schären.

VERIRRT

Hier im Norden führen die Straßen durch endlose Wälder.
Sie wirken eintönig, wenn man hindurchfährt.
Ihre Geheimnisse und ihre Schönheit geben sie nur dem Wanderer preis.

Also mache ich mich auf den Weg. Haushohe Felsbrocken liegen herum,
meterhohe glatte Wände ragen auf. Urwüchsige Bäume dazwischen.
Ein schmaler Pfad zwängt sich durch unwegsames Gelände.
Felsen bilden eine Höhle, einige Stufen führen hinunter.
Tief muß man sich bücken. Wessen Behausung betritt man hier?

Der Weg führt, ständig die Richtung wechselnd, um Felsbrocken herum,
über Hügel, durch Bäche und kleine Moore. Manchmal kreuzt ein anderer Pfad.
Nach einiger Zeit habe ich die Orientierung verloren. Ratlos bleibe ich stehen.

In diesem Augenblick kommt ein Wanderer um die Wegbiegung,
der erste Mensch, den ich heute treffe. Ich frage nach dem Weg.
Mühsam verständigen wir uns. Schließlich führt er mich, fast zwei Stunden lang,
den Weg zurück, den ich gekommen bin.

Auf einer Rast teilt er heißen Kaffee aus der Thermosflasche mit mir.
Das tut gut. Man ist aufeinander angewiesen in der Wildnis.

EIN HAUS - EIN FEUER

Im Dorf ist noch Leben,
als ich eines Abends von einer Wanderung durchs Moor zurückkehre.
Ein Mann steht in der Tür und winkt mir.
Ich trete ein in die kleine rote Holzhütte mit dem Moosdach.
Behaglich ist es hier drin.
Ich bin froh, die nassen Schuhe loszuwerden.

Wir beginnen, miteinander zu reden:
über das Moor, über die Menschen,
über unsere Familien, über uns selbst.

Er zündet ein Feuer an.
Es knistert leise und gibt ein warmes Licht,
das seinen flackernden Widerschein auf die Holzwände wirft.
Wie wohl das tut. Ich bin fremd und doch zu Hause.
Alles wärmt mich nach dem kühlen Weg durchs Moor:
das Kaminfeuer, die Atmosphäre der alten Hütte,
das Gespräch, die Blicke.

Ich öffne mich für die neuen Eindrücke,
gehe ein Stück aus mir heraus.
Ich könnte die ganze Nacht so weiterreden.
Aber nach einer Weile spüre ich,
daß es für mich Zeit ist zu gehen.

Wie oft erleben wir das,
wenn wir etwas Kostbares bekommen haben:
wir wollen mehr und verlieren alles.

Ob es um einen Besitz, um einen Erfolg
oder um die Liebe eines Menschen geht:
mit unseren beiden Händen
können wir nur weniges halten.
Wenn wir nach etwas anderem greifen,
verlieren wir so leicht, was wir besaßen.

AUF DER SUCHE SEIN

Es gibt nur eine Stelle, an der all unsere Sehnsucht zur Ruhe kommt.
Das ist der Ort, von dem wir einmal ausgegangen sind.
Ob wir nun auf der Suche nach Gott sind
oder auf der Flucht vor ihm – er kann uns überall begegnen.

KOMMEN UND GEHEN

Begegnung mit einem Land:
Am Ufer sitzen und ahnen,
welche Naturgewalten die Landschaft geformt haben.
Menschen begegnen, und in ihnen einem Volk,
das eine lange Geschichte hat.

Zeugnisse aus der Vergangenheit betrachten,
Gräber der Vorzeit, Kirchen des Mittelalters,
und im Geist die Völker sehen,
die im Laufe der Zeit durch dieses Land gezogen sind
wie wandernde Herden.

Wie ein Teppich sind Land und Volk ausgebreitet.
Wer aber hat das Muster entworfen?
Was ist die treibende Kraft hinter allem?
Wer hat dies Kommen und Gehen in der Hand?

IN EINER ALTEN KIRCHE

Immer liegt am Weg eine Kirche.
Geh doch einmal hinein. Da bist du allein. Da ist Stille.
Da kannst du ein Gespräch beginnen mit dem alten Gotteshaus.
Du brauchst nicht einmal die Augen zu schließen,
um dir vorzustellen, wie sonntags die Gemeinde
von den Höfen ringsum sich zum Gottesdienst versammelt;
wie sie hereinkommen in ihrer Tracht oder dem Feiertagskleid;
gemessen, mit schweren Schritten,
wie sie bedächtig den Riegel vor ihrer Bankreihe öffnen
und an ihrem angestammten Platz ein kurzes Gebet murmeln.

Ein Feldblumenstrauß schmückt die Kirche,
und wenn Pfingsten ist, sind junge Birken aufgestellt.
Du kannst spüren, wie die Menschen hier ihre Wurzeln haben,
und der Gekreuzigte im Triumphbogen
schaut auf ihre gesenkten Köpfe herab,
wie er schon auf die ihrer Väter und Vorväter schaute,
die jetzt draußen vor der Kirche unter dem grünen Rasen ruhen.
Vielleicht erinnert noch ein Kreuz an die Stelle,
und jemand hat frische Blumen hingestellt.

VERBOTENE FRÜCHTE

Es gibt viel zu sehen in den alten Kirchen.
Für den, der sich in eine der harten Bänke setzt
und die Augen wandern läßt,
fangen die Wandmalereien und die Holzfiguren
zu reden an.

Sie erzählen alle von einem Thema:
von Schöpfung und Fall und Erlösung.
Es scheint so, daß hier in den langen, dunklen Wintern
die Sehnsucht nach dem Paradies besonders groß geworden ist.

Immer wieder sieht man Adam und Eva,
wie sie vom Schöpfer geformt
und liebevoll aufeinander zugeführt werden.
Doch dann greifen sie nach den verbotenen Früchten.
Beschämt müssen sie das Paradies verlassen,
vertrieben vom Engel mit dem Schwert.
Es scheint, als gäbe es niemals einen Weg zurück.

Eines Tages trifft dich der Blick des Gekreuzigten,
und du kannst nicht ausweichen.
Er ist auf einmal da und fragt: Wo willst du hin?
Und wir halten erstaunt inne und schauen auf,
und vielleicht begreifen wir dann erst,
was wir gesucht haben.

ANGENOMMEN SEIN

Den Wendepunkt meiner Reise
erlebte ich an einem Platz am Meer,
wo ich für immer hätte bleiben mögen.
Dort fand ich alles, wonach ich mich gesehnt hatte.
Es war ein Stück Paradies.

Aber wenn ich geblieben wäre,
wie schnell wäre dort der Alltag eingekehrt.
Wir Menschen können uns auch an solch einem Platz
das Leben schwermachen mit Forderungen,
Vorwürfen, Anschuldigungen.

Paradies ist dort, wo Gott nahe ist
und uns keine Schuld und keine Wünsche mehr
von ihm trennen. Wo wir wieder angenommen sind.
Wo sein Licht auf uns fällt und uns durchleuchtet
und auf unsere graue Welt seinen Glanz legt.

IN EINER MITTSOMMERNACHT

In einer kleinen Bucht am Meer war ich ans Ziel gekommen.
In der Nacht wachte ich auf und schaute aus dem Zelt.
Wie klar und licht war die Nacht. Ich wurde sofort hellwach.

Obwohl es um Mitternacht sein mußte,
breitete sich im Norden ein blasses Abendrot am Himmel aus.
Wie eine Herde alter Elefanten lagen die rundgeschliffenen Felsen
in der Dämmerung. Die See war glatt.
Ein Leuchtturm spiegelte sein Licht darin.
Am Horizont schienen einige flache Inseln zu schwimmen.

Was für eine Nacht!
Manchmal schrie ein fremder Vogel, aber sonst war es ganz still.
Hin und wieder glitt ein Boot vorbei.

Die Felsen waren noch warm von der Sonne.
Lange saß ich da und schaute.
Das Abendrot wurde langsam zum Morgenrot.
Ein zarter Hauch tauchte eine Insel nach der anderen
in rosaschimmerndes Licht.
Auf der anderen Seite war das Meer tiefblau.
Am Horizont aber breitete sich ein türkisfarbener Streifen immer mehr aus.
Dort schien das Wasser von innen zu leuchten.

Ein Vogel flog lautlos vorüber. Mein Herz wurde ganz still und weit.
Alles, was mich den Tag über beschäftigt hatte,
war klein und unwichtig geworden.
Ich selber wurde unbedeutend; der Himmel aber wurde weit.

DER GLANZ KAM VON DRÜBEN

Mit einem Male fühlte ich: das war es! Ich war angekommen.
Dies war das Ziel meiner Reise. Ich brauchte nicht weiterzufahren.
Mehr als dies würde ich nicht finden.

Ein frischer Wind strich mir ums Gesicht, aber mir war nicht kalt.
Mir schien, als sei ich noch nie im Leben so wach gewesen.
Und da war eine große Klarheit in allem,
wie ich sie noch nie empfunden hatte.
Ich konnte ahnen, daß diese Welt
aus einem heiligen Willen entstanden war.
Nichts weiter sah ich als Meer und Felsen,
aber darin war alle Herrlichkeit enthalten.

Ich war ein winziges Teilchen von etwas Großem,
und ich mußte antworten. Ganz von allein geschah es:
Lieder und Gebete kamen mir in den Sinn und auf die Lippen.
Ich hätte mir die Stimme eines Engels gewünscht.

Dann wieder saß ich einfach still da und schaute,
fast ohne zu denken und zu fühlen.
Groß war das, was ich sah; diese Schöpfung, der ich zugehörte.
Nicht als Zentrum, nein, nur als ein kleines Pünktchen auf einem Felsen.

Ich sah, wie klein ich war, und ich konnte es auf einmal ertragen.
Es war nicht mehr so wichtig. Ich konnte alles Unvollendete in mir annehmen.

Nicht ich war es, der vollenden mußte. Der Glanz kam von drüben.

IM LICHT

Weiter und immer weiter wurde mein Herz.
Und ich sah: dies war nicht nur das Ziel meiner Reise,
es war der Wendepunkt meines Lebens,
der Berggipfel, von dem aus der Weg abwärts führte.
Von morgen an würde ich auf dem Heimweg sein.

Wer weiß, ob ich nicht schon den längsten Teil meines Lebens gelebt habe.
Viele Wünsche hatten sich erfüllt. Ich war zufrieden.
Ich mußte nur noch zu mir selber finden.

Aber das braucht die Stille und die Klarheit einer solchen Nacht,
daß du dich erkennst. Und du kannst dich nur erkennen und ertragen,
wenn da einer dir gegenüber ist und dich anschaut und dich liebt.

Alle Inseln lagen nun im Licht,
und die Sonne baute eine goldene Brücke zu meinem Ufer.
Dort, wo das Wasser die Felsen umspülte,
schien es wie flüssiges Gold zu sein.

Ja, in diesem Licht möchte ich leben.
Es widerspiegeln wie das Wasser.
Mich ihm öffnen wie eine Blume.
Mich ganz davon durchleuchten lassen.

DER WEG ZURÜCK IST WEIT

Einmal endet die Reise.
Dann mußt du dich lösen vom fremden Land und heimkehren
und zu Hause durch deine Tür treten.
Du bist nicht mehr derselbe,
der voller Sehnsucht und Hoffnung losgegangen 1st.
Du bist ein anderer.

Nun wird sich zeigen, ob du das, was du erlebtest,
mitnehmen konntest und es hineintragen kannst in dein Haus, in deinen Tag.
Ob du ein Stückchen von dem Paradies entdeckt hast, nach dem du suchtest.

Ich hatte etwas Kostbares gefunden und wollte es behalten.
Nun fuhr ich heim. Es war an der Zeit.

Der Regen, der gestern noch frisch war,
hüllte heute die Landschaft in ein gleichförmiges Grau,
durch das nur noch hin und wieder ein Lichtstrahl drang.
Der Zauber war dahin. Ich machte mich auf den Weg
und fuhr viele hundert Kilometer heimwärts. Es war fast wie eine Flucht.

Ich hatte mir eine Kassette mit nordischer Musik gekauft
und hörte ein schwermütiges Abschiedslied.
Die Wolken schoben sich immer tiefer und zogen ein graues Tuch über alles.
Die Landschaft schmolz zu einem graugrünen Streifen zusammen.

Ich hatte dieses Land liebgewonnen. Der Abschied fiel schwer.
Aber er würde nicht leichter werden, wenn ich noch bliebe.
Ich spürte, das wäre nur ein Hinauszögern. Ich mußte fahren.

VERÄNDERUNGEN

Am nächsten Abend war ich zu Hause.
Weit war der Weg gewesen und lang die Fahrt.
Es war schön, wieder daheim zu sein.

Man kann nicht erwarten, daß alles so ist,
wie man es verlassen hat, wenn man einige Wochen fort war.
Daß auf meinem Acker Dornen und Disteln gewachsen waren,
damit hatte ich gerechnet. Es konnte nicht anders sein.
Aber daß mein Kätzchen mager und struppig war
und mich fremd anschaute, das tat mir weh.
Ich mußte ganz von vorn beginnen, es zu zähmen.

Und auch die Menschen leben weiter, während man fort ist.
Vieles ist ohne einen geschehen.
Alles verändert sich. Nichts bleibt, wie es war.

WAS BLEIBT?

Ja, nun bin ich zu Hause nach einer langen Reise.
Viele tausend Kilometer bin ich gefahren. Was bleibt?

Etwas Meeressand am Boden der Koffer.
Viele Bilder. Einige Bücher aus dem Norden brachte ich mit.
Eine Handvoll Postkarten, die ich für eine Weile an die Wand hängen will.

Erinnerungen an helle Nächte und Nachtigallengesang,
ein rotes Dalarna-Pferdchen, ein paar Muscheln, eine Handvoll Adressen.

Liebe zu einem Land, eine große Sehnsucht nach der Stille dort
und der Wunsch, im nächsten Jahr wiederzukommen.

Ein paar Worte in einer anderen Sprache;
die Erinnerung, daß jemand für mich ein Feuer anzündete im fremden Land.

Flügel sind mir nicht gewachsen, aber ich habe gelernt zu gehen,
meinen Weg zu gehen, meinen Schritt einzuhalten.

Ich werden an vielen Orten meine Spuren finden.

Bilder-Strecke zum Buch „…dann wünsche ich mir Flügel“ von Ruth Rau.
Erschienen 1984 im Fotokunst-Verlag Groh, Wörthsee und München
Redaktion: Marcel Hiller (by HILLER MEDIA); Bilder: Ruth Rau

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